Die Spur des Kindes

Als Mutter freut man sich natürlich, wenn andere Menschen vom eigenen Nachwuchs beeindruckt sind. Ich hatte zwei kinderlose Freundinnen zu Gast und bei denen wollten wir als Familie einen guten Eindruck hinterlassen. Es war ein lauer Freitagabend, das Kind war mit dem Papa auf dem Spielplatz. Ich erwartete die beiden aber zum Abendessen zurück.

Die Freundinnen klingelten und ich führte sich durch eine saubere und aufgeräumte Wohnung: Vorbei an einer Küche, in der die Lasagne im Ofen duftete, auf einen frisch gefegten und begrünten Balkon.

So musste sich eine Supermutti fühlen. Ich hatte eine perfekte Fassade errichtet. Die Freundinnen sollten denken, dass ich neben dem Job und dem wohlgeratenen Kind ganz problemlos die Wohnung sauberhalte und koche während der Supervater das Superkind auf den Superspielplatz führt. Sicher würden sie nach Hause gehen und mit ihren Partnern die Familienplanung umsetzen, nur, weil bei uns alles so gut lief. Ich würde Vorbild sein, Inspiration und Motivation.

Dass wir das Sauberhalten längst outgesourct hatten, behielt ich für mich. Aber die Lasagne war echt. Ich hatte mir Zeit gekauft, in dem Fall für eine Lasagne ohne Fertiggewürzmischung und mit selbstgemachter Bechamel-Sauce und (für das Gefühl gesunder Ernährung am Rande) einen frischen Salat mit hauseigener Kräutervinaigrette, natürlich mit Kräutern aus eigener Balkonzucht.

Meine Freundinnen waren von dieser Hausfrauenmeisterleistung schon sehr beeindruckt. Sie konnten ja nicht ahnen, dass meine Tochter sie sprachlos machen würde.

Vater und Tochter sahen bei ihrer Rückkehr aus, als seien sie bei einer Sahara-Expedition von einem Sandsturm überrascht worden, kamen aber angeblich vom Spielplatz. Meine Tochter zog ihren kleinen Sandspielzeugbollerwagen schnurstracks durch die Wohnung auf den Balkon. Natürlich ohne ihre Gummistiefel auszuziehen.

Auf dem Balkon bestaunte sie erst den Besuch, doch die frisch gepflanzten Kräuter waren irgendwie spannender. Zack – lag der Topf mit dem Basilikum am Boden. Terrakotta. Tolle Idee, so ein bruchsicheres Material – bruchsicher hieß: es geht sicher zu Bruch. Memo an mich: Plastiktöpfe bis alle Kinder aus dem Haus sind.

Während ich einen Handfeger holte, schafften die kinderlosen Freundinnen es nicht, meine Tochter von der Gießkanne fernzuhalten. Wie auch?  Sowas schafften höchstens SEK-Beamte, Türsteher oder Profiwrestler, und davon mindestens zwei – von jeder Sorte. War das Baby, das ja gar kein Baby mehr war, schon wieder gewachsen? Gestern war die Gießkanne doch noch in unerreichbarer Höhe und heute fegt sie sie mit einer leichten Handbewegung einfach weg.

Die frisch gefüllte Kanne ergoss ihren für die Kräuter bestimmten Inhalt über den Balkon. Meine Tochter benutzte ihre Gummistiefel korrekt und sprang in die Pfütze. Die Küchenuhr bimmelte. Wir flüchteten vor der Überschwemmung ins Esszimmer und brachten Spuren nasser Blumenerde mit hinein.

Das Kind wurde in seinen Hochstuhl verfrachtet und bekam eine Kinderportion Lasagne. Innerhalb von 10 Sekunden war der Hochstuhl eingesaut und der Pullover auch. Das Lätzchen hatte ich nicht vergessen. Ich nutzte es nicht mehr. Noch nie hatte ein Lätzchen – egal welcher Größe – ein Kleidungsstück meiner Tochter sauber gehalten. Und wenn es tatsächlich mal ein paar Spritzer abhielt, riss sie es sich vom Leib (womit wir beim Kampf „Konsequenz in der Erziehung“ versus „eigener Wille“ wären. Ein besonders schönes und buntes Thema – aber davon soll an anderer Stelle berichtet werden).

Ein bisschen von dem Essen landete in ihrem Mund, der Großteil auf dem Boden. Als Dessert forderte sie „Roro“ (=Joghurt) und garnierte die Lasagne auf dem Boden mit ein paar Klecksen hellrosa Erdbeerjoghurt.

Der Papa übernahm und machte das Kind bettfein. Um die Spur des Kindes zu verfolgen, reicht das bloße Auge einer 90-Jährigen, dafür braucht man keine Spurensicherung: Tomatensaucenfingerabdrücke überall, obwohl ich ihre Hände abgewischt hatte. Irgendwoher zaubert ein Kind immer Dreck- oder Saucenreserven.

Im Bad patschte sie mit Wasser und Seife den Boden nass und beglückte Mutter und Gäste durch die geschlossene Badezimmertür dann mit ihrem „Ich will nicht Zähneputzen“-Schreien. Nach dem Zahnputzfrust schmiss sie zwei, drei Cremedosen und sonstiges Badezimmerequipment aus dem Regal.

Damit war die Aggression aber schon abgelassen. Ein gut gelauntes und sauberes Kind im rosa-weiß-karierten Schlafanzug marschierte ins Wohnzimmer und machte mit seinem zuckersüßen Kinderlachen alles wieder gut. Zumindest kurz. Ganz kurz. Einen Moment lang traute ich dem Kind über den Weg, obwohl ich es seit anderthalb Jahren kannte. Als könne es kein Wässerchen trüben schlich es um den Couchtisch herum und machte süße Kindersachen wie lachen und seine neu erlernten Wörter zum Besten geben (Tisch, Katze, Baum). Ich konnte die biologische Uhr meiner kinderlosen Freundinnen ticken hören. Das Ticken wurde aber schnell von sehr, sehr lauten Alarmglocken übertönt:

„Zehn Minuten“ hatten der Papa und ich vereinbart. Doch die brauchte unsere Tochter gar nicht. Ihr reichten drei.

Als hätte sie Superkräfte war sie urplötzlich unbemerkt an ihrer Spielzeugschublade, holte eine Kiste Legosteine heraus und kippte sie aus. Sie spielte noch nicht ernsthaft mit Lego, sie machte nur Legobauten kaputt, die ich zwischendurch zur Entspannung baute. Während wir Erwachsenen versuchten, den Lego-Impuls zu unterdrücken, kletterte sie in die Schublade und fand ihre Wachsmalstifte. Da wieder keine SEK-Beamten oder Türsteher in der Nähe waren, hatte unser Couchtisch schnell eine interessante Musterung in grün und orange. Das Papier, das zum Malen vorgesehen war, schmiss sie unter den Tisch, rutschte dann auf einem Blatt aus und entdeckte dabei unter dem Sofa vergessene Bauklötze die sie lautstark und sofort mit dem Befehl „Da! Da! Bau! Bau!“ einforderte. Während ich unter die Couch krabbelte, bauten meine Freundinnen den Lego-Duplo-Bauerngarten mit Ziege zusammen. Meine Tochter malte auf dem Boden rum. Da erlöste uns der Papa, indem er den Schlafsack hereinbrachte und den kleinen Terroristen darin eingepackt abführte. Zelleneinschluss.

Meine Freundinnen mussten tief durchatmen. Eine fand die Worte wieder: „Ich bin absolut beeindruckt. Als wir kamen, gab es keine Spur von dem Kind. Jetzt frage ich mich, ob ihr wirklich nur eins habt oder ob sich da noch welche verstecken.“ Da fiel es mir wieder ein: „Ach ja, deshalb hatte ich euch ja eingeladen. Ihr werdet es nicht glauben: Die sind bald zu zweit!“

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