Vor ein paar Tagen ist es wieder passiert. An der roten Ampel heulte neben mir plötzlich ein Motor auf. Ich drehte mich zur Seite und blickte in die glühenden Augen und gefletschten Zähne eines testosteronüberladenen Führerscheinneulings. Er spielte mit dem Gaspedal seines tiefergelegten Polos, gestikulierte wild mit seinen Fitnessstudioarmen und formte mit seinen blutroten Lippen ein deutliches „Ich zieh‘ dich ab!“
Kaum war die Ampel grün, zog er links rüber, verschwand in einer Abgaswolke und ich konnte nur noch den „Abi-2013-Aufkleber“ über seinen Rücklichtern bewundern.
Seit ich wieder ein Baby an Bord des Autos habe, passiert mir das ständig. Sobald wir stehen bleiben müssen, führt das zu sofortigem Protest von der Rückbank: Baby Lilly brüllt und brüllt. Wenn wir Anna von der Kita abholen, stimmt sie fröhlich mit ein und ruft: „Fahren! Fahren! Ganz schneller!“ Nur wenn Bewegung im Wagen ist, ist Ruhe auf den Rücksitzen. Deshalb rolle ich an der roten Ampel immer vor und zurück oder spiele mit dem Gas. In letzter Zeit wurde ich daher ein paar Mal von jungen Männern mit Tribalmuster an der Heckscheibe ihrer familienuntauglichen Autos zu illegalen Autorennen herausgefordert. Da wir selbst ein familienuntaugliches Auto ohne „Baby an Bord“-Sticker fahren, werde ich als Mutti wohl nicht sofort erkannt. Ich überlege oft, auszusteigen, und den Jungs ganz muttimäßig zu erklären, dass das ganz viel Spritgeld kostet, gar nicht gut für die Umwelt ist und ich das nur machen darf, um mich davon abzuhalten, meine Kinder an der nächsten Autobahnraststätte anzubinden und selbst auf ewig in einer Abgaswolke zu verschwinden.
Aber ich schimpfe nicht mit den Jungs und binde meine Kinder nirgendwo an (zumindest nicht außerhalb ihres Zuhauses), sondern flüchte mich in einen Tagtraum: Darin fahre ich keinen schnöden und für zwei Kinder viel zu kleinen Golf, sondern einen getunten Mustang ohne Kindersitze, der die Hauptrolle in einem coolen HipHop-Video spielt. Nur der Soundtrack meines Tagtraums lässt noch etwas zu wünschen übrig, denn bei den „30 besten Spiel- und Bewegungsliedern“ kommt nicht die richtige Video-Superstar-Stimmung auf.
Immer, wenn ich mit dem Gas spielend auf grünes Licht warte, hoffe ich (auch für die Jungs im Nebenauto), dass irgendwann mal langbeinige Mädchen in Hot Pants und Bikinioberteil angerannt kommen, um sich auf unserer Motorhaube zu räkeln. Es passiert leider nie. Zu „Zeigt her eure Füße“ räkelt es sich wohl schlecht.
Vielleicht frage ich den nächsten Herausforderer mal, ob er gegen Tankgutscheine Nachtschichten als Babysitter schieben will.
Ich kann ein paar zusätzliche starke Arme gut gebrauchen. Denn auch zu Hause ist Stillstand nicht erwünscht.
Sobald Lilly müde ist, hilft nur eins: Herumtragen. Was gar nicht geht, ist Stehenbleiben oder gar Hinsetzten und auf dem Schoß weiterschuckeln.
So kommen mein Schrittzähler und ich nachts ordentlich ins Schwitzen. Sobald es dunkel wird, schiebe ich den Esstisch zur Seite, ziehe die Vorhänge zu und schaffe mir meinen eigenen Laufsteg. Mit Baby auf dem Arm übe ich den Germanys Next Topmodel Live Walk – höchst unprofessionell in Pantoffeln.
Ich versuche mit Ausfallschritten, Kniebeugen und langsamem Walzer alles, um in Bewegung zu bleiben.
Als ich gestern Nacht wieder durch Wohnung tänzelte, fiel mir ein, dass ich die Fitness-Studio-Mitgliedschaft kündigen sollte, denn in meinen Gedanken ertönte die schrille Stimme meiner früheren Aerobic-Trainerin Nancy: „Und jetzt A-Step — noch drei, noch zwei noch eins — und Side-to-Side — noch vier, noch drei, noch zwei…“, schallte es in meinem Kopf, und ich tapste müde die Schrittfolgen nach.
Baby Lilly ist allerdings erbarmungsloser als Babe Nancy. Die hat uns wenigstens ab und zu mal zum Wassertrinken geschickt oder erlaubt, uns mit dem Handtuch die Stirn abzutupfen.
Sobald ich es wagte, ein kleines Päuschen einzulegen, brüllte Lilly wieder los. Also ging die nächtliche Turnstunde weiter. Nach dem Warm-up machte es sogar Spaß und ich musste mich schwer konzentrieren, damit die Nancy in meinem Kopf nicht zu viel Macht bekam. Lillys Unversehrtheit zu Liebe. Denn ich erinnerte mich an Nancys Lieblingssatz, den sie immer ausrief, wenn ich gerade mühevoll den Takt gefunden hatte: „Und jetzt die Arme dazu!“