Am 4. Juni ist Tag der Organspende.
Als eine von mehr als 10.000 Menschen in Deutschland stand auch unsere Tochter im letzten Sommer auf der Eurotransplant-Warteliste für ein Spenderorgan.
Damals habe ich mir viele Gedanken zum Thema Organspende gemacht.
Ich selbst hatte da schon seit Jahren einen Organspendeausweis und hätte nie gedacht, dass dieses Thema mal so nah kommen würde.
Noch ein Spaziergang, Mama?
„Noch einen kleinen Spaziergang, ja, Mama?“, fragt Anna. Ihr ist jedes Mittel recht, um das Zubettgehen noch ein bisschen hinauszuzögern. Sogar an die frische Luft geht sie freiwillig.
Es ist ein lauer Spätsommerabend, also sage ich: „Eine Runde und dann gehst du ins Bett.“
„Jaaa! Mit dem Laufrad. Mit ohne Helm!“ fordert sie. In zwei Monaten wird Anna drei. Sie macht gerade alles „mit ohne“: Trinkt am liebsten „Apfelschorle mit ohne Wasser“ und geht gern baden „aber mit ohne Haare waschen“.
Ich nehme Annas rosa Fahrradhelm von der Garderobe. Sie steht schon im Flur und schubst ihr Laufrad die Stufen zur Haustür hinunter und grinst mich dabei an. Ich öffne ihr die Tür und sage: „Setz‘ bitte den Helm auf“. „Gleich!“, ruft sie. „Erstmal mit ohne“, und düst los. Sie ist verdammt schnell auf dem kleinen grünen Rad. Vor dem Wohnzimmerfenster bremst sie kurz ab, hupt auf ihrer Fliegenpilzhupe und winkt ihrem Papa zu, der mit Baby Lilly am Fenster steht. Papa winkt. Lilly schläft auf seinem Arm.
Bevor ich sie einholen kann, flitzt Anna weiter, den Bürgersteig entlang auf die Straßenkreuzung zu.
„Nicht so schnell, Anna!“, rufe ich und trabe hinter ihr her, den Helm in der Hand. Anna hebt eine Hand. „Ja, Mama! Ich passe auf!“
Sie rast weiter. Ihre blonden Locken flattern im Fahrtwind. „Hui! Huuii!“ juchzt sie.
Die Kreuzung ist wie immer zugeparkt.
„Bleib stehen!“ rufe ich und laufe etwas schneller.
„Anna! Stop!“
Ein schwarzer Kleinwagen biegt am Ende des Blocks in unsere Straße.
„Schneller! Schneller!“, quietscht Anna und rast weiter.
„Halt an! Warte!“ Meine Stimme überschlägt sich.
Sie fährt auf eine Lücke zwischen zwei parkenden Autos zu.
Der schwarze Wagen kommt näher.
Anna wird schneller.
„Stop! Stop!“, rufe ich.
Ich renne.
„Ich warte doch, Mama!“ Anna dreht sich um. Sie lacht und schüttelt ihren Lockenkopf.
Fast stolpere ich aus vollem Lauf über Anna und ihr Laufrad. Wie konnte sie so schnell bremsen?
Das schwarze Auto fährt vorbei. Ganz langsam.
Ich setze Anna den Helm auf. „Gut gemacht, Schatz“, sage ich mit zittriger Stimme. Wir gucken links, rechts, links und überqueren die Straße. Anna fährt in Schlangenlinien aber etwas langsamer vor.
Ich atme tief durch. War das knapp? Oder bin ich nur panisch?
Immer wenn ich Anna auf ihrem Laufrad sehe, sie allein über die Straße gehen will, vom Klettergerüst fällt oder sich nicht anschnallen mag, lassen sich die Gedanken nicht abstellen. Die Gedanken daran, wie ich mich entscheiden würde, wenn ihr etwas passiert.
Denn wir warten darauf, dass es irgendwo anders nicht so glimpflich ausgeht.
Wir warten darauf, dass ein Kind nicht mehr anhalten kann, dass ein Autofahrer zu schnell fährt, dass ein Radfahrer die Kurve nicht kriegt, dass ein Motorrad von der Straße abkommt, einen Wanderunfall, Discotod.
Post von Eurotransplant
Im Frühling lag ein Brief von Eurotransplant im Briefkasten. Mit unserer Kundennummer.
Während Anna mit dem Laufrad durchs Viertel rast, wartet ihre kleine Schwester auf eine Spenderleber.
Würde ich bei Anna auch so entschlossen „Ja“ ankreuzen, wie ich es in meinem eigenen Organspendeausweis getan habe?
Eine Frage, die ich hoffentlich nie beantworten muss. Andere Eltern müssen sie beantworten und sind so mutig, die Organe ihrer Kinder weiterleben zu lassen.
Ein Kind, dass auf eine Spenderleber wartet, muss nicht unbedingt eine Kinderleber bekommen. Durch eine Split-Technik kann eine Erwachsenenleber zwei Empfängern helfen. Bei einem Herzen wird es da schon schwieriger.
Bei uns endete der Sommer auf der Warteliste glücklich damit, dass Lillys Papa als Lebendspender in Frage kam und ihr mit einem Stück seiner Leber helfen konnte. Sie wurde von der Liste gestrichen. Aber vielleicht muss sie irgendwann wieder drauf. Jeder kann durch einen Unfall oder eine Erkrankung plötzlich auf ein Spenderorgan angewiesen sein.
Viele Kinder stehen auf der Warteliste für ein Organ, das sie nicht von einem Angehörigen bekommen können. Auch wenn viele Papas ihrer Tochter auch ihr Herz spenden würden – da machen die Ärzte nicht mit. Also holt euch den Ausweis und lasst was von euch hier, falls ihr ganz plötzlich gehen müsst.
Infos und den Organspendeausweis zum Ausdrucken gibt es hier: https://www.organspende-info.de/
Man kann übrigens auch „Nein“ ankreuzen, wenn man seine Organe partout nicht hergeben will. Die Entscheidung, seine Organe zu spenden, ist in jedem Falle eine sehr persönliche. Dann ist der Ausweis den Angehörigen eine Hilfe, die in einer emotionalen Stresssituation Klarheit haben.
Ich empfinde es für mich persönlich auch als Muss! Meine Mutter durfte aufgrund einer Lungenspende vor 6 Jahren Ihr neues Leben feiern. Sie lebt immer noch gut mit Ihrem SpenderOrgan. Die Wartezeit war aber der Horror! 3 Jahre stand sie als „U“ auf der Liste. 1 Monat auf der „HU“! Und im letzten Moment kam sie Transplantation. Gerade noch rechtzeitig.
danke! Schön, dass es deiner Mama so gut geht und ihr diese schwere Zeit überstanden habt! Alles Gute für euch!
2013 lag unser Sohn Felix mit einer schweren Lungenentzündung (RSV) auf der Intensivstation. Eines morgens hatte er Apnoe (Atemstillstand). Sein Gesicht wurde blau und fiel regelrecht in sich zusammen, auf dem Monitor konnte ich mitverfolgen, wie die Herzfrequenz rasant nach unten ging. Er musste nicht wiederbelebt werden – die Krankenschwestern und Ärzte hatten die Situation schnell wieder im Griff. Trotzdem war es ein Schock. Nach 10 Tagen konnte Felix auf die Normalstation verlegt werden und feiert im August seinen 4. Geburtstag.
Selbst wenn die Ärzte und Krankenschwestern mir immer wieder versichert haben, dass Felix wieder ganz gesund würde, hatte ich trotzdem eine Scheißangst, dass es nicht so sein würde. Dass er den nächsten Apnoe-Anfall nicht überlebt. Dass er entgegen der Aussagen der Ärzte doch nicht wieder gesund wird. Die einzige Sache, die für mich einen eventuellen Tod in irgendeiner Weise sinnvoll gemacht hätte, wäre eine Organspende gewesen. Dieser Gedanke war für mich sehr tröstend und die Angst wurde dadurch etwas erträglicher. Die Gewissheit, dass wenn schon so ein blöder Virus meinem Sohn das Leben nimmt, ein anderes Kind davon profitieren kann. Dass auch auf diese Weise ein Stück von meinem Kind weiterlebt. Von daher würde ich aus vollem Herzen „Ja“ ankreuzen, auch wenn mir bei dem Gedanken schlecht wird, es könnte Felix oder seiner Schwester Amelie etwas zustoßen. Der Tod eines Kindes ist fürchterlich und unerträglich – aber in meinen Augen erscheint er etwas weniger sinnlos, wenn die Organe anderen Kindern dabei helfen können, zu überleben.
wow! Großen Respekt, das ist sicher eine Perspektive, die nur wenige Eltern einnehmen können. Vielen Dank, dass du uns teilhaben lässt. Schön, dass es deinem Sohn gut geht! Alles Gute für euch!