Die Adventszeit ist die Zeit der Ruhe und Besinnlichkeit – für alle, die kein zweijähriges schokoladengieriges Kind bei sich wohnen haben.
Schuld ist natürlich der Adventskalender. Genauer: Omas Adventskalender.
Meine liebevoll und kinderfigurfreundlich mit Pixi-Büchern, Haarspangen, Mandarinen und Nüssen bestückten vierundzwanzig Jutebeutelchen hatten keine Chance. Denn die Oma schleppte das klassische Billigschokostück-hinter-Papptürchen-Modell an.
Ab dem 3. Dezember tönte aus dem Babyfon nicht mehr das allmorgendliche „Maaamaaaa!“, sondern ein schrilles „Türchen aufmaacheeeen!“ Meistens eine Stunde früher als üblich, sodass meine verschlafenen Augen auf dem Wecker oft noch eine Fünf vor dem Doppelpunkt erblicken mussten.
So geduldig wie vor sechs Uhr morgens möglich, erklärte ich meiner Tochter, dass sie das Schokotürchen erst am Nachmittag oder nach dem Abendessen öffnen dürfe: „Keine Schokolade zum Frühstück! Du bist ja nicht Bridget Jones!“
„Dooooch! Ich doch Bridsesons! Türchen aufmachen! “ rief sie und schleppte ihre Hocker und Kisten ins Wohnzimmer, um zum außer Kinderhändereichweite neben dem Fernseher positionierten Pappkalender emporzusteigen.
An manchen Tagen konnte ich die Mini-Bridget bis nach Kindergartenschluss hinhalten. An den anderen achtete ich darauf, dass sie nicht schon mit Schokomund dort ankam, denn der würde mich als inkonsequente und unkreative Versagermutti outen.
Als endlich das letzte Türchen geöffnet und das letzte Adventkalenderschokostück verspeist war (natürlich vor dem Frühstück), gab es Geschenke.
Das Highlight war de Lego-Duplo-Eisenbahn. Für Papa und Opa.
Während die Pute im Ofen garte, lagen die beiden hochkonzentriert auf dem Boden. „Es gibt immer zu wenige Geraden“, schimpfte der Opa. „Die Weiche muss vor die Brücke“, fachsimpelte der Papa. „Meine Eisebahn! Ich auch baue! Tuut tuuut!“ rief die eigentliche Eisenbahnbesitzerin und brach die erste Linkskurve vor der Brücke wieder auseinander. „Neiiiin!!!! Wir waren doch fast fertig!“, riefen Opa und Papa im Chor.
„Geh mal zur Mama, wir haben hier was wichtiges zu tun“, sagte der Papa und versuchte mit Händen und Füßen, seine Tochter von den Gleisen fern zu halten, um das Großprojekt Legobahnhof termingerecht vor dem Weihnachtsessen fertigzustellen.
Unsere Tochter zeigte sich überraschend einsichtig und ließ die beiden alten Herren ihren Lokführertraum ausleben. Denn es gab noch was Besseres. Das Christkind hatte – über die Tante als Zwischenhändler – Knete unter den Baum legen lassen.
Knete in den Farben rot, grün, blau und gelb. Leuchtende und satte Farben waren das und gut in der Hand lag die Knete auch. „Klete! Klete!“, rief die Kleine und fing an, die Plastikdosen zu leeren und wild draufloszukneten, was ihrer festlichen beigen Kunstfellweste eine sehr individuelle Note verlieh.
Pünktlich mit dem Klingeln der Küchenuhr schnaufte auch die batteriebetriebene Legobahn zu ihrer Jungfernfahrt rund um den Esstisch, Papa und Opa gaben sich High Five und nahmen am Tisch Platz.
„Wir mussten ja noch selber schieben. Eine Lokomotive mit Batterien – sowas gab es bei uns nicht“, meckerte meine Schwester, heute nur noch Tante genannt, über ihre miese Kindheit und verteilte mit finsterer Miene die Festtagsknödel.
„Ich habe keinen Hunger! Ich habe Klete!“ rief unsere Tochter und ich ließ sie „nur ausnahmsweise“ am Boden sitzen. Zu verlockend war die Aussicht auf ein ruhiges Weihnachtsessen.
„Wir mussten immer mit an den Tisch. Und unsere Knete war nur grau-braun“, beschwerte die Tante sich weiter und träufelte lustlos Sauce über ihr Stück vom Weihnachtsbraten. „Heute ist irgendwie alles bunter. Und Ausstechförmchen und Knetstempel gibt es auch. Wir hatten ja nichts. Damals. In den Achtzigern“, behauptete sie und spülte ihren Rotkohl mit einem großen Schluck Wein herunter.
Pötzlich riss die Tante ihre Augen auf und zeigte entsetzt auf das friedlich neben der Festtafel knetende Kind: „Ich nehme alles zurück! Anscheinend bin ich selbst Schuld an meiner grauen Achtzigerjahre-Kindheit! Guckt mal!“
Nach kaum einer halben Stunde in der Gewalt unserer Tochter kam die eben noch strahlend bunte Knete im angesagten grauen Eighties-Look daher.