Seit der Geburt unserer zweiten Tochter Lilly gehört die Kinderklinik zu unserem Alltag.
Allein im letzten Jahr haben wir weit mehr als 100 Tage auf der Kinderstation verbracht.
Nicht am Stück, aber immer wieder. Mal ein paar Tage mit Fieber, mal eine Woche mit Voruntersuchungen für die Lebertransplantation, mal zwei Wochen mit Magen-Darm, dann zwei Monate nach der Lebertransplantation. Das läppert sich.
Dass das nicht schön ist, versteht sich. Sehr oft saßen wir sehr sorgenvoll an Lillys Bettchen. Aber um die richtig schlimmen Tage soll es heute nicht gehen. Sondern um die schlimm langweiligen Tage. Die, an denen wir „zur Beobachtung“ noch bleiben müssen. Wenn der Durchfall weg, das Fieber abgeklungen und die Laune auf dem aufsteigenden Ast ist.
So wie jetzt.
Im Moment wohne ich mit Lilly auf der Kinderstation, weil sie nicht einfach eine normale Mittelohrentzündung haben kann, sondern gleichzeitig noch irgendein unaussprechliches und mir bis dato völlig unbekanntes Darmbakterium ihr Bauchweh und Durchfall bereitet hat.
Jetzt geht es ihr wieder gut. Das ist schön. Aber ihr Blut spricht noch eine andere Sprache, als der Körper, durch den es fließt.
Also müssen wir noch bleiben. Das ist nicht so schön. Einen Tag noch, vielleicht zwei. Oder auch drei. Im Isolierzimmer.
Das heißt, alle, die reinkommen, müssen sich einen Kittel, Mundschutz und Handschuhe überziehen. Ich muss die gleiche Montur anlegen, wenn ich das Zimmer verlasse. Zum Beispiel, um auf die Toilette zu gehen oder mir einen Kaffee zu holen. Besuch ist bitte auf ein Minimum zu reduzieren. Das heißt aktuell: Papa kommt nach Feierabend, bringt mir Sachen oder lässt mich mal ein, zwei Stündchen das Krankenhaus verlassen, um die große Schwester zu sehen oder ohne Kittel aufs Klo zu gehen. Das war’s.
Was machst du eigentlich den ganzen Tag im Krankenhaus?
Stell dir vor, du bist in Isolationshaft. Ganz allein in einem kleinen Zimmer, vielleicht zehn, zwölf Quadratmeter.
Durch ein ungeputztes Fenster blickst du auf eine graue Fassade mit weiteren ungeputzten Fenstern. Du hast ein Bett, einen Schrank, ein eigenes Waschbecken, einen kleinen Tisch und zwei Stühle.
Du bist Stammgast, also hast du freies WLAN. Du hast deinen Laptop und Bücher dabei, Zeitschriften und Nagellack.
Hört sich ganz gemütlich an. So könnte Mutti mal ein paar Tage ausspannen.
Aber dann kommt die Challenge:
Du wohnst mit einer Anderthalbjährigen in diesem Zimmer. Sie ist eine besondere Anderthalbjährige. Nicht nur, weil sie deine Tochter ist. Auch nicht, weil sie sehr, sehr süß ist, obwohl sie deine Tochter ist.
Anders als die meisten Anderthalbjährigen kann sie noch nicht laufen. Sie hat aber einen ausgeprägten Bewegungsdrang.
Teil zwei der Challenge: Die Anderthalbjährige darf nicht den Boden berühren. Dass sie dir nicht hinunterfallen sollte, ist klar. Aber sie sollte auch nicht krabbeln. Sonst fängt sie sich auf dem Weg zur Zimmertür garantiert etwas ein, das euch für weitere zwei Wochen an die Klinik fesselt. Du hast dein Bett, ihr Gitterbett, zwei Stühle und deinen Schoß, um dir ein angemessenes Entertainment-Programm auszudenken. Ihr Papa hat euch einen Eimer mit Bauklötzen, ein paar Bilderbücher und eine Spieluhr vorbei gebracht. Jetzt bist du dran.
Ach ja, dein Smartphone kannst du höchstens dazu benutzen, Selfies mit ihr zu machen, alles andere wird von ihr boykottiert.
Die Rahmenbedingungen sind klar. Der Tag kann beginnen.
Morgens geht es rund auf der Station. Deshalb stelle ich immer meinen Wecker auf halb sieben und bin sehr ehrgeizig darin, angezogen zu sein, die Zähne geputzt zu haben und freundlich lächelnd auf meinem Bett zu sitzen, wenn die Frühdienstschwester hereinkommt. Meistens ist es natürlich so, dass ich mit Zahnbürste im und Schaum vorm Mund im Schlafanzug am Waschbecken stehe und meine Kontaktlinsen noch nicht eingesetzt habe. Dann höre ich, dass eine für diese Uhrzeit deutlich zu fröhliche Stimme flötet „Guten Morgen! Ich stelle schon mal die Medikamente auf den Tisch!“
Lilly wird meist kurz nach mir in ihrem Gitterbettchen wach. Sie hat gute Laune, denn sie fühlt sich ja nicht mehr krank. Dann geht das Morgenprogramm los: Wickeln, Essen, Trinken, Waschen, Medikamente einnehmen – wie zu Hause, nur, dass uns hier alles gebracht wird und ich klingeln kann, wenn etwas fehlt. (Das könnte ich zu Hause auch, aber falls jemand auf das Klingeln reagieren sollte, ist es niemand, der mir weiterhelfen könnte.)
Um 7:45 Uhr bringt eine Schwesternschülerin das Frühstückstablett herein.
Wir essen. Schnell. Denn um 8:00 Uhr möchte sie das Tablett wieder mitnehmen. Und wenn man diesen Zeitpunkt verpasst, steht es bis zum Mittagessen im Zimmer.
Während ich noch den letzten Brötchenbissen kaue, kommt die Stationsärztin herein.
Sie untersucht Lilly.
Ich gebe Auskunft über Ein- und Ausfuhr, Körpertemperatur und allgemeine Stimmungslage.
Dann sagt die Ärztin: „Bis gleich.“
Wenn eine Ärztin sagt: „Bis gleich“ ist es so, als sagt eine Hebamme: „Das geht jetzt ganz schnell.“ Es dauert dann auf jeden Fall einige Stunden, manchmal auch Tage, bis etwas passiert.
Dann ist es etwa halb neun und es passiert erstmal nichts weiter.
Wir blättern in Bilderbüchern. Wir bauen Bauklotztürme.
Oder wir spielen mit dem Original-Krankenhaus-Spielset: Wir (also ich) pusten blaue Untersuchungshandschuhe auf und binden uns Stauschläuche um die Stirn. Lilly beißt vor lauter Langeweile in eine Nierenschale.
Kinder, die zu viel Zeit im Krankenhaus verbringen, erkennt man daran, dass sie am liebsten mit Stethoskop, Stauschlauch und Blutdruckmanschette spielen. So wie Lilly.
Die Zeit geht damit auch nicht schneller rum, als mit Bauklötzen.
Kaum habe ich gefühlte acht Stunden lang blaue Klinikhandschuhe aufgepustet und durchs Zimmer fliegen lassen, ist es auch schon wieder halb zwölf und es gibt Mittag. Ja, richtig. Um 11:30 Uhr. Manchmal auch erst um 11:45 Uhr. Dann bekomme ich schon langsam Panik, dass wir nichts abbekommen. So sind wir wieder zwölf bis fünfzehn Minuten lang beschäftigt.
Dann macht Lilly ein Schläfchen. Ich bastle am Laptop Fotoalben und warte.
Niemand kommt herein.
Dann könnte ich mich ja eigentlich zu Lilly legen, denke ich. So ein Mittagsschlaf ist auch ganz schön. Wenn wir schon mal hier sind…
Ich hole Lilly in mein Bett. Decke uns beide zu. Schließe die Augen.
Es ist, als habe das ganze Krankenhaus auf diesen Moment gewartet.
Denn dann geht es los.
„Ich bring schon mal die Medis für 14 Uhr.“
„Ich wollte eben Blutdruck messen.“
„Ist meine Kollegin hier?“
„Sie können heute zum Ultraschall.“
„Ich wische mal rasch durch.“
„Kann ich die volle Windel haben?“
„Oh, falsches Zimmer.“
„Haben Sie schon Temperatur gemessen?“
„Ich wollte mal eben in die Ohren gucken.“
Das meinen sie also mit „zur Beobachtung“: Sicher werden wir heimlich kameraüberwacht. Am Empfang sitzt die nette Dame und sagt: „Die Mutter in der 104 hat sich hingelegt. Bitte alle in Position. Auftritt Schwester 1 sobald sie eingeschlafen ist. Die anderen dann im Fünf-Minuten-Takt hinterher.“
Nachdem ich den Mittagsschlafversuch aufgegeben habe, kommt dann wieder lange, lange, lange niemand rein.
Um 15 Uhr gibt es Antibiotika. Wieder so ein Highlight des Tages.
Aber wir haben ja uns. Und unsere Bauklötze. Und die Handschuhe.
Wie ein Schaf, das zu lange in der Sonne gestanden hat
Es gibt nur ein Wort, dass meine Gemütslage treffend beschreibt, wenn ich mit Lilly auf dem Arm oder im Tragetuch stundenlang das Krankenhauszimmer abschreite. Ich werde rammdösig. Wer rammdösig ist, so der Duden, ist „dösig wie ein Schaf, das zu lange in der Sonne gestanden hat“ und „unfähig einen klaren Gedanken zu fassen“. Das trifft es ziemlich genau. Ich bin wie betäubt und spüre gleichzeitig permanent einen Fluchtreflex, will mit dem Kopf durch die Wand. Aber das bringt ja nix, denn dahinter ist nur das nächste Krankenzimmer.
Etwa 3.000 aufgepustete Handschuhe später ist es auch schon viertel vor fünf und das heißt: Abendessen! Ernsthaft! Um. Viertel. Vor. Fünf.
Um kurz vor 17 Uhr (spätestens) kommt eine neue Schwesternschülerin mit einem Tablett herein. Darauf steht ein Teller mit zwei Scheiben Brot, zwei hübschen Butter-Blumen, zwei Scheiben Käse, einem einsamen Blatt Salatgarnitur und manchmal einem Plastikschälchen mit Beilage. Also Rote-Bete-Salat oder eine Handvoll geraspelter Möhren. Lecker ist das nicht. Satt macht es auch nicht.
Preisfrage: Wenn ich um 17 Uhr zwei Scheiben Brot esse, wann habe ich dann spätestens wieder Hunger?
Richtig. Um 17 Uhr 30.
Aber das Krankenhausessen ist sowieso ein Kapitel für sich.
Fortsetzung folgt.
One thought on “Mutti wird rammdösig. Oder: Wir sind zu lange im Krankenhaus”