Das Mamiversum. Unendliche Weiten. Wir schreiben das Jahr 2018. Dies sind die Abenteuer des Mutterschiffs, das mit seiner vier Mann starken Besatzung seit fast sechs Jahren unterwegs ist und fremde Galaxien (Indoorspielplatz, Elternrat) erforscht und neue Zivilisationen (in Brotdosen und Regenjackentaschen) entdeckt. Viele Lichtjahre von seinem alten Leben entfernt, dringt das Mutterschiff in Galaxien vor, die nie ein Kinderloser je gesehen hat. Heute sieht sich das Mutterschiff mit einem bekannten Problem konfrontiert: Dem Wutanfall im Supermarkt.
Der Kardinalfehler: Einkaufen nach Feierabend mit Kind
Wie an jedem Wochentag gegen 16:30 Uhr war Rentnerin Erika M. (77) auch an diesem Mittwoch eingefallen, dass ihr noch ein halbes Pfund gute Butter fehlte. Also stürzte sie sich ins Feierabend-Getümmel und mischte sich unter die arbeitende Elternschaft, die es für eine gute Idee hält, ihren Nachwuchs von der Kita direkt in den Supermarkt zu kutschieren. Was viele Eltern seit langem vermuten, bestätigt Erika M. gegenüber diesem Blog: Die fehlende Butter ist nur ein Vorwand. „Meinen Großeinkauf hatte ich wie immer schon mittags erledigt. Das mache ich am liebsten, wenn die Berufstätigen nur mal eben schnell etwas für die Mittagspause brauchen“, sagt Erika und grinst verstohlen.
Wie alle Rentner kommt sie am Nachmittag nur für die Show. Den Klassiker schlechthin: Kind hat Wutanfall im Supermarkt. Mutter rastet aus.
Der Trend unter gelangweilten Rentnern: Eltern-Bashing
Dahinter steckt ein besorgniserregender Senioren-Trendsport, wie Erika, die in Wirklichkeit ganz anders heißt, zugibt. „Ich komme wegen der Kinder. Die sind immer so furchtbar laut und ungehorsam. Da kann ich meinen abschätzigen Blick aufsetzen und kopfschüttelnd an diesen modernen Müttern von heute vorbeiziehen“, sagt Erika. „Für die meisten habe ich auch noch einen flotten Spruch parat. Von ‚Früher hätte es so etwas nicht gegeben‘ bis zu ‚Da muss man sich einfach mal durchsetzen‘. Oder auch ‚Uns hätten sie die Ohren lang gezogen‘ ist alles dabei“, berichtet Erika. „Mütter-Bashing“ nennen Experten diesen aktuellen Trend unter gelangweilten Rentnern, die sich teilweise über ihre sozialen Medien wie Zeitungsannoncen oder Litfaßsäulen zu gemeinsamen Aktionen in Supermärkten verabreden. Das Muster ist immer gleich: Ein Kind wütet, eine Mutter verzweifelt, eine Rentnerin gibt Tipps. Die Mutter — in Einzelfällen auch der Vater — jongliert Waren, Einkaufswagen und Kind und beide rauschen heulend ab. „Das gibt uns ein gutes Gefühl. Es ist fast wie ein Rausch“, gibt Erika zu.
Die fünfjährige Anna läuft zur Höchstform auf
Doch an diesem Tag lief das Bashing bei Erika gehörig schief. Ein Schock für die rüstige Rentnerin. Erika kommt am liebsten mit ihrer Freundin Uschi (80) zum Bashing. Uschi musste aber einen Fußpflegetermin wahrnehmen, auf den sie sehr lange gewartet habe. „Ein Glück für Uschi. Sie ist ja nicht mehr die Jüngste. Ich habe ja schon einiges erlebt, aber was sich an diesem Tag zugetragen hat, schockiert mich noch immer“, so Erika, der auch einige Tage nach dem verstörenden Ereignis schwerfällt, über das Erlebte zu reden.
Wie wir rekonstruieren konnten, war die fünfjährige Anna an besagtem Tag Kundin in diesem Supermarkt an einer belebten Einkaufsstraße im Essener Süden. Zumindest wollte sie eine echte Kundin werden. Deshalb schmiss sie munter Bonbontüten und Schokoladentafeln in den Einkaufswagen. „Mama wollte das nicht und hat alles wieder zurückgestellt“, verrät uns Anna exklusiv (und für einen Traubenzuckerlolli). „Da habe ich eben mein Programm durchgezogen, um wenigstens an der Kasse ein Überraschungsei zu bekommen, ist doch logisch“, berichtet sie patzig und verschränkt trotzig die Arme vor der Brust.
Stufe 1: Auf den Boden schmeißen
Weitere Zeugen berichten übereinstimmend, dass die Fünfjährige sich zunächst vor dem Müsliregal auf den Boden schmiss und ihre Mutter das wohl anfangs noch ganz witzig fand. „Ich glaube, die fand das sogar anfangs noch ganz witzig“, bestätigt ein Zeuge, der lieber anonym bleiben möchte, da er selbst Vater ist, aber an diesem Tag ohne das Wissen seiner Familie allein einkaufen ging. Nach rund zwei Dutzend mehr oder weniger freundlichen Bitten und halbherzigen Drohungen dackelte Anna laut nölend und „Blöde Kackmama“ skandierend hinter ihrer Mutter her in Richtung Kasse.
Stufe 2: „Ich! Will! Ein! Eis!“
Dort traf das Mutter-Tochter-Gespann dann auf Erika M., die geschäftig in der Eistruhe herumwühlte. „Ich lauere immer direkt im Kassenbereich. Da ist am meisten los“, weiß die Seniorin. „Eis! Eis! Eis!“, rief Anna. Beim Anblick der Eiskarte hatte sie glatt ihre mühsam antrainierte Fähigkeit zum Sprechen in ganzen Sätzen inklusive des Formulierens einfacher geschlossener Fragen vergessen.
Den Hinweis ihrer Mutter, die zu diesem Zeitpunkt noch recht geduldig tat, die Flecken auf Annas Shirt stammten von dem soeben vertilgten Erdbeereis, was der Grund dafür sei, dass es nun kein weiteres Eis mehr gebe, veranlasste Anna, in Eskalationsstufe 2 zu schalten. Sie rannte zum Kühlregal, schmiss dabei eine Kiste Stapelchips um und griff sich ein koffeinhaltiges Kaltgetränk. In einer Glasflasche. „Die Mutter wirkte beim Aufheben der Chips sichtlich genervt“, berichtet Erika. „Aber da konnte ich ja nicht ahnen, wozu sie fähig ist.“
Stufe 3: Der Wutanfall im Supermarkt
Während die Mutter die Brause wieder zurückstellte und dafür zwei Sekunden lang ihre Tochter aus den Augen ließ, schaltete diese hoch auf Eskalationsstufe 3. Es kam zu tumultartigen Szenen, als Anna der armen Erika die schon fast abgefrorene Hand in der Eistruhe einklemmte und sich ein XXL-Magnum griff. „Die Mutter konnte dieses aber rechtzeitig zurücklegen, bevor die Kühlkette unterbrochen wurde. Für unsere Kunden hat zu keinem Zeitpunkt Gefahr bestanden“, bezeugt der Filialleiter gegenüber diesem Blog. Während die Mutter ihre Waren auf dem Kassenband platzierte, versuchte sie, ihre Tochter davon abzuhalten, die Süßigkeitenregale abzureißen und den anderen Kunden den Einkaufswagen in die Hacken zu rammen. „Das sah eigentlich nach einem typischen Verlauf aus“, sagte die erfahrene Mütter-Basherin. „Ich war bestens vorereitet. Obwohl meine Hand noch schmerzte, habe ich meine Brille tiefer auf die Nase geschoben um besser drüber hinweg gucken und gute Ratschläge geben zu können.“
Anna drehte sich mittlerweile gekonnt auf dem Boden liegend um die eignen Achse und schrie „Ich! Will! Mir! Aber! Jetzt! Was! Kaufen!“
„Der Mutter standen die Schweißperlen auf der Stirn“, erinnert sich Erika. „Sie sah eben noch wie eine ganz normal überforderte Mutter von heute aus, die mit dem Wutanfall im Supermarkt nicht klarkommt. Ich habe mich schon so darauf gefreut, ihre ein paar Tipps zu geben oder von früher zu erzählen, als alles besser und die Kinder deutlich gehorsamer waren. Da dreht sie sich plötzlich zu ihrem Kind und…“, Erika kann vor Schock gar nicht mehr weitersprechen. Übereinstimmenden Zeugenaussagen zufolge und von Insidern bestätigt, sagte die Mutter dann laut, so dass es alle Kunden an den drei Kassen mitbekommen haben müssen, einen unfassbaren Satz zu ihrem wütenden Kind:
Ein magischer Satz beendet den Wutanfall im Supermarkt
Anna hielt mitten in ihrem Tobsuchtsdrehwurm inne, wischte sich den Schnodder von der Nase und an ihrem Tüllrock ab und nickte nur.
Erika fällt es schwer, über diese Enttäuschung zu sprechen. „Ich war wie erstarrt. Die Mutter hob das Mädchen hoch. Plötzlich war Ruhe.“ Erika schüttelt den Kopf. „Dabei sah das Kind wirklich vielversprechend aus, es hat alles richtig gemacht. Ich habe Potential in dem Mädchen gesehen. Es hätte eine große Vorstellung werden können“, sagt Erika mit brüchiger Stimme. „Zum Glück war Uschi nicht da, das hätte sie in ihrem Alter nicht so gut verkraftet.“ Aufgeben möchte Erika M. aber noch lange nicht. „Wir kommen Samstag wieder. Oft sind da sogar vier- bis sechsköpfige Familien im Rudel unterwegs. Da gibt’s richtig Stress.“
Hier gehts zu Folge 2 der News aus dem Mamiversum: Die Suche nach dem Kitaplatz.
OMG das ist wirklich großartig – ein klasse Artikel!!!
Übrigens habe ich Erika M. heute mit meiner 3-Monate alten Tochter Straßenbahn getroffen. Als das Baby anfing zu grummeln (sie war müde) wies mich Erika M. zurecht dass das Kind sicherlich Hunger habe! Ich nehme an dass dies eine Art Aufwärmübung für Erika darstellte, bevor es im Supermarkt dann richtig zu Sache gehen sollte. Für den heißen Tipp bin ich ihr aber sehr dankbar, ich habe mich in den letzten drei Monaten so oft gefragt warum das Baby schreit, auf Hunger wäre ich nie gekommen.