Unter Krankenhausmuttis ist es wie unter Rentnern auf Kreuzfahrt. Es gibt zwei Themen: Medikamente und Essen.
Von Ersteren gibt es immer zu viel, von Letzterem zu wenig.
Dafür sind die Medikamente echt gut, was man vom Essen leider nicht immer behaupten kann.
Die Essensfrau ist da
Jeden Morgen gegen zehn klopft es an unserer Zimmertür.
Das kann keine Krankenschwester sein und auch keine Ärztin, denn das medizinische Personal klopft nur an, wenn es Zeit hat. Also nie.
„Die Essensfrau ist da“, sage ich zu Lilly und schon steckt die freundliche Dame ihren Kopf zur Tür herein. Lilly winkt. Die Essensfrau winkt zurück und sagt: „Naaa duu?“
Dann lehnt sie sich an den Türrahmen, denn reinkommen dürfte sie nur mit Kittel und Mundschutz und so viel Zeit hat sie auch wiederum nicht.
Muss sie auch nicht. Denn wir kennen uns. Sie weiß, dass ich das vegetarische Essen bevorzuge und am Frühstück und am Abendessen nichts ändern möchte. Zumindest nichts, auf das eine von uns Einfluss hätte.
Als alter Hase im Klinik-Business weiß ich natürlich, dass die korrekte Berufsbezeichnung der netten Mitarbeiterin gar nicht „Essensfrau“ lautet, sondern „Mahlzeitendisponentin“. Aber ich darf Essensfrau sagen. Glaube ich.
„Was möchten Sie denn morgen zu Mittag essen?“, fragt sie und blickt auf ihren grauen Mahlzeitendisponentinnenlaptop. „Vegetarische Erbsensuppe oder Tilapiafilet natur auf Joghurtsauce mit Vitalgemüse und Kartoffeln?“, liest sie vor und meint: Irgendwas Grünes oder Fischklotz an Pampe.
„Ich hoffe, dass wir morgen nicht mehr da sind“, sage ich, wie jeden Tag.
Sie lächelt milde.
Wir haben zwar ein Einzelzimmer für uns zwei, aber ich entscheide mich doch für Fisch statt Erbsensuppe. Sie tippt geschäftig meine Bestellung ein. Eigentlich ist es egal, was ich bestelle und was sie eintippt. Geschmacklich macht es kaum einen Unterschied, ob man Fisch, Fleisch, Eintopf oder Fischfleischeintopf bestellt. Man kann höchstens anhand der Konsistenz raten, was es ist.
Mein Essen hätten wir also geplant. „Für die Kleine wieder passierte Kost?“, fragt die Essensfrau weiter. „Ja, gern“; lüge ich.
Passierte Kost heißt die Kinder-Krankenhausmahlzeit nur aus einem Grund: Weil etwas Schreckliches mit dem Essen passiert ist.
Es ist Fake-Essen. Es wurde einmal durch den Wolf gedreht, aber das soll man auf den ersten Blick nicht merken. Das Kinderauge isst ja mit und das soll gefälligst eine Hähnchenkeule, ein Steak, eine Bratwurst oder Gulasch erblicken, wenn die Mutti den Warmhaltedeckel lüftet.
Lilly isst es aber und macht danach einen langen Mittagsschlaf. Mehr möchte ich gar nicht wissen.
Die Essensfrau tippt Lillys Bestellung ein, löst sich vom Türrahmen und wünscht uns einen schönen Tag und guten Appetit. Humor hat sie auch.
Das Styling des Essens ist nichts für Foodblogger. Aber mit Mamabloggern kann man es ja machen.
Jeden Mittag stochere ich in meiner Mahlzeit herum und versuche, mich an das zu erinnern, was die Essensfrau tags zuvor vorgeschlagen hatte. Ist das nun Rindergulasch oder Paprikagemüse? Pfannkuchen oder Omelett? Hühnerfrikassee oder die Asiapfanne? Der Geschmack liefert jedenfalls keinen Anhaltspunkt.
„Hauptsache es macht satt“, versuche ich mir einzureden. Aber da sind wir schon beim nächsten Problem.
Selbst wenn ich die Suppe, das Hauptgericht und den Nachtisch herunterkriege, habe ich spätestens nach einer Stunde wieder Hunger.
Vielleicht bekommen alle Klinikbewohner die gleichen Kalorien zugeführt wie die Komapatienten?
Oder halten sie mich in meiner Lethargie schon für eine Komapatientin?
Satt macht das Essen jedenfalls auch nicht.
Für den Nachmittag hebe ich mir ab und zu einen Keks vom Mittagessen auf.
Ich weiß nicht, wie sie es schaffen, dass nichtmal die Kekse Geschmack haben.
Sie locken mit Namen wie Mocca-Zunge oder Queen-Gebäck und schmecken wie das Graubrot vom Abendessen, krümeln nur etwas mehr.
Das traurigste Abendessen der Welt
Mit dem Abendessen rekrutiert die Klinik für Psychotherapie nebenan einen Großteil ihrer Patienten.
Wer mit dem kranken Kind allein noch nicht therapiebedürftig ist, der wird es jeden Abend ein Stückchen mehr. Das Abendessen liefert den Stoff, aus dem Alpträume sind:
Weiße Klinikschuhe huschen über Linoleumboden. Eine Tür geht auf.
Ein graues Tablett. Ein Deckel. Zwei Scheiben Brot. Eine Scheibe Mortadella. Eine Scheibe Käse. Ein gerupftes Salatblatt. Ein Plastikschälchen Apfelmus. Eine grüne Krankenhauswasserflasche.
Jeden Tag machen sie einen mürbe damit. Und zwar um 17:00 Uhr. Wenn andere gerade zum gepflegten Nachmittagstee ansetzen, ist in der Klinik der Tag vorbei.
Ende. Aus. Aufgegessen.
Im Krankenhaus braucht man unbedingt immer Kleingeld für den Süßigkeitenautomaten. Milde depressive Anflüge lassen sich ja seit jeher mit Schokoriegeln, Chips oder Weingummis am besten abwehren.
Tipp vom Profi: Die Chips- und Ringlifächer sind abends immer leer. Wirklich immer. Wer, wie ich, einen zuverlässigen Heißhunger auf herzhafte Snacks hat, muss spätestens mittags vorsorgen.
Aber nicht nur der Hunger zehrt an den Nerven. Auch die Einsamkeit.
Wenn man den gefühlt 48 Stunden langen Tag mit Kleinkind in der Klinik rumgekriegt hat und das Gitter am Bettchen vorsichtig hochschiebt, um es nicht zu wecken, hat man als Erwachsener ja noch ein paar Stunden bis zur Bettzeit abzusitzen.
Noch wichtiger als das Kleingeld ist deshalb ein Essenslieferant.
Man kann sich natürlich auch in die Kinderklinik eine Pizza bestellen.
Ich habe ein paar Mal das „Spezial für die kleine Familie“ inklusive einer Flasche Pizzerialambrusco geordert, aber der Pizzabote hat mich nur mitleidig angesehen, als ich ihm einen Kittel hinhielt und einen Stuhl in unserem Isolierzimmer anbot. Ich schätze, er wollte den guten Wein nicht aus den Hagebuttenteebechern trinken. Oder das Kind im Gitterbettchen störte seine Pizzabotenphantasie, in der er von einer einsamen Frau im besten Alter hereingebeten und zu seinem eigenen Essen eingeladen wird.
Auch die Schwestern haben mein Angebot, mit uns zu Abend zu essen mit fadenscheinigen Ausreden („Blutdruck messen“ / „Medikamente richten“ / „gerade ein Notfall“) abgelehnt.
Alle bis auf eine.
Meine Schwester.
Wenn ich mal wieder vor lauter Rammdösigkeit und Magenknurren weder ein noch aus weiß, steht sie in der Tür. Mal mit einer Pizza, sehr oft mit etwas Selbstgemachtem: Couscous, Nudelsalat oder eine kleine Quiche, Kuchen als Nachtisch. Meine Rettung!
Wenn ich sie nicht selbst noch so dringend bräuchte, würde ich sie gern an die Krankenhausküche weiterempfehlen, denn sie kocht mit Gewürzen.
P.S.: Wir wurden entlassen! An dem Tag schmeckte sogar das Essen!
oh man, da kann ich mich noch gut dran erinnern. die abendbrotportion so mini und lieblos. einfach nur deprimierend. 2 scheiben brot sind n witz. und dann zu absurden zeiten. ich konnte vor magenknurren nicht schlafen.
ich lese deine texte und fühle so mit dir. es berührt mich unglaublich. ich finde dich so stark und tapfer. ich wünsche euch alles gute und vor allem viel gesundheit.
ganz lieben Dank!